Überlinger Leitbild für eine verantwortungsvolle Stadtentwicklung

Überlingen am Bodensee - Münster

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Die Entwicklung der Stadt Überlingen sollte von Werten und von der Idee der Gemeinwohlökonomie geleitet werden. Daher fordern wir von den politischen Verantwortlichen der Stadt, sich zu gemeinsamen Werten zu bekennen und diese in einer Präambel für zukünftiges Handeln festzuschreiben:

Die Bürger, der Gemeinderat und die Stadtverwaltung entwickeln die Stadt Überlingen gemeinsam in Achtung des historischen Erbes, und geben dabei dem Bedarf der gesamten Gemeinde, dem Schutz der Umwelt und des Klimas und dem Erhalt des besonderen Charakters Überlingens die höchste Priorität. Der Dialog in der gemeinsamen Planung ist offen und transparent, die Entscheidungsträger berücksichtigen die Bedürfnisse aller Beteiligten gleichermaßen, behandeln die Argumente fair, geben Raum für Diskussionen in strittigen Punkten, fällen Entscheidungen erst nach gründlicher Betrachtung.

Welche Stadtentwicklung wollen wir?

Gemeinden in der Bodenseeregion wie Überlingen sind konfrontiert mit einer einseitigen Entwicklung zu touristischen Schwerpunkten, verbunden mit einem überproportionalen Anteil an Ferien- und Zweitwohnungen mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Speziell in Überlingen steht seit Jahren das Alleinstellungsmerkmal des Prädikates „Heilklimatischer Kurort“ auf der Kippe.

Eine Diskussion über ein Gesamtkonzept für diese Entwicklung gab es bisher weder in den betroffenen Kommunen noch in der Bevölkerung. Diese Entwicklung darf kein Selbstzweck sein. Voraussetzung vor weiterer Nachverdichtung und Ausweisung neuer Baugebiete ist ein Gesamtkonzept, das aufzeigt, welche Konsequenzen diese Entwicklung für kulturelle und architektonische Identität, soziale Zusammensetzung sowie Klima, Flächenverbrauch, Landschaft und Verkehr hat.

Für eine qualitative Stadtentwicklung im Einklang mit der Region. Für ein funktionierendes / vorbildliches Ökosystem Bodensee als Maßnahme gegen den Klimawandel. Für den Erhalt des Prädikates „Heilklimatischer Kurort“. Für eine verantwortungsvolle Politik, die das historische Erbe der Stadtentwicklung in Kernstadt, Dorf und Vorstadtbereiche besonders achtet, und die Identität der Stadt und der Region auch für kommende Generationen bewahrt!

Wem gehört die Stadt?

Überlingen leidet in hohem Maße an stetig steigenden Miet- und Immobilienpreisen. Es fördert den verstärkten Zuzug sehr wohlhabender Menschen. In dem für die Mittelschicht so wichtigen mittleren Segment und für den Bedarf junger Familien mit Kindern wurden und werden hingegen nur wenige Wohnungen geschaffen. Viele BürgerInnen können sich das Leben in ihrer Stadt Überlingen nicht mehr leisten und werden verdrängt. Lokale Unternehmen haben mehr und mehr Schwierigkeiten, die gesuchten Mitarbeiter zu finden, bzw. Arbeitnehmer müssen in preiswertere Kommunen ziehen, was zur Folge eine Zunahme der Mobilität sowohl der Arbeitnehmer als auch der Kinder nach sich zieht.

Für einen Stopp des ungebremsten Zuzugs (Zweitwohnungen) und den einseitigen Einfluss kapitalstarker Investoren (30% sozialer Wohnungsbau Pflicht). Eine weitere Bautätigkeit darf nur im Einklang mit dem Landschaftsraum / Klima erfolgen und auch nur, wenn ein positiver Effekt auf das Preisniveau nachgewiesen werden kann! Für die Schaffung von erschwinglichem Wohnraum für Familien mit Kindern!

Welche Planungspolitik wollen wir?

Derzeit bestimmen Einzelprojekte die Stadtentwicklung (Planung im Areal Langgasse, in der Fischerhäuser Vorstadt, auf der Zimmerwiese, die Laserklinik, Baupläne bei Schloss Rauenstein), die nachhaltig das Stadtbild verändern. Der öffentliche Bedarf (Erhalt der Identität der Quartiere, Schaffung von Begegnungsstätten, Schaffung von Mehrwert für die bestehende Bevölkerung, z.B. durch Bau eines Bürgerhauses) wird vernachlässigt. Vorhandene, teils historisch gewachsene Bausubstanz wird nicht gepflegt und erhalten und wird damit mittel- und langfristig durch austauschbare Neubaukonzepte ersetzt.

Für eine aktive Planungspolitik, die neben einer geordneten städtebaulichen Entwicklung dem Ziel der Klimaneutralität dient. Für klimaneutrales Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen (Holz und Ziegel statt Beton). Für ein Gesamtkonzept: Wohnen, Leben, Verkehr, Arbeiten. Für eine Planungspolitik, die den Charme und den Wiedererkennungswert der historisch gewachsenen Stadt stärkt!

Welchen Rahmen und welche Grenzen braucht die Planungspolitik?

Aktuelle Bauprojekte gehen weit über den alten Bestand hinaus. Jeder Abriss mit Neubau endet in einem voluminöseren Gebäude mit mehr Flächenverbrauch. Die umliegenden Bauten bleiben unberücksichtigt und die maximale Nachverdichtung beseitigt vorhandene Grünflächen und Klima-fördernde Areale. Wir brauchen in Überlingen ein Freiflächenentwicklungs- und ein Klimaschutzkonzept. Baum- und Naturschutz sollen im städtischen Raum eine große Rolle spielen, ebenso wie Selbstversorgung / Urbanes Gärtnern.

Für Haltelinien bei der baulichen Entwicklung. Keine seezugewandte Bebauung (wie im Bodenseeleitbild definiert) und Freihalten von definierten Grünzügen und Biotopvernetzungsstrukturen. Für flächenmäßige Ausgleichsmaßnahmen (so viel entsiegeln wie versiegelt wird)!

Welche Investoren wollen wir?

Überlingen ist wie der gesamte Bodenseeraum Ziel von bundesweit agierenden internationalen Immobilienunternehmen. Viele Beispiele zeigen durch Kauf und Weiterverkauf, dass hier nicht nur sozial verträgliche und langfristige Investoren, sondern auch Spekulanten am Werk sind, deren Handeln auf kurzfristige Rendite ausgerichtet ist. Andere Kommunen in Deutschland wie z.B. Ulm kaufen gezielt Immobilien und Grundstücke auf, um sie den Zugriff der Investoren zu entziehen. Viele Kommunen in Vorarlberg und Tirol, aber auch in der Schweiz ermöglichen den Erwerb von Grundstücken und Immobilien nur, wenn der Erwerber auch seinen Lebensmittelpunkt und damit auch die Steuerpflicht an den neuen Wohnort verlegt. Damit wird ein organisches Wachstum der Kommunen gefördert und dem Immobilien-Spekulationsgeschäft die Grundlage weitestgehend entzogen.

Für lokale und langfristig orientierte Investoren, Genossenschaften und andere gemeinwohlorientierte Einrichtungen. Die Stadt sollte ihr Vorkaufsrecht nach BauGB in Zusammenarbeit mit dem Gemeinde­rat und dem Spital- und Spendfonds verstärkt umsetzen. Nachrangig können Überlinger Bürger, Bürger aus dem Umland und Baugenossenschaften zum Zug kommen. Erst wenn niemand aus diesem Umfeld das Grundstück erwerben will, kann ein fremder Investor, reiner Kapitalanleger zum Zuge kommen!

Welche Bodenpolitik wollen wir?

Andere Städte betreiben eine alternative Bodenpolitik und erreichen dadurch, dass Wohnen bezahlbar bleibt. Amsterdam z.B. verkauft kein Grundstück, sondern vergibt dies nur in Erbpacht. Wien betreibt seit Jahrzehnten erfolgreich ein konsequentes Grundstücksmanagement, was dazu führt, dass 60 % der Wiener Mietwohnungen in der Hand der Stadt oder von Genossenschaften sind, und in Konsequenz die Medianmiete inkl. Nebenkosten bei 8,50 EUR liegt. Das „Deutsche Institut für Urbanistik“ fordert in seiner bodenpolitischen Agenda 2020-2030, öffentliche Grundstücke nur noch an gemeinwohlorientierte Bauträger abzugeben und das Vorkaufsrecht für Kommunen zu stärken.

Für eine alternative Bodenpolitik! Eigene städtische Grundstücke sowie die des Spital und Spendfonds dürfen nur verpachtet werden!

Welche Architektur wollen wir?

Die Bautätigkeit der letzten Jahre hat zu uniformen Baukörpern geführt, die so oder ähnlich überall in

Deutschland zu finden sind. Gute Architektur lässt einen Gesamtbezug zum regionalen Umfeld und zur eigenen Identität erkennen und schafft Orte, an denen wir gerne leben, anstatt nur zu schlafen und zu konsumieren.

Für eine menschengerechte Stadtentwicklung mit regional interpretierter, rücksichtsvoller Architektur, die echte Lebensräume klimaneutral schafft und auch für künftige Generationen positiv wahrnehmbar bleibt! Für den Erhalt der gewachsenen Strukturen und Charakteristika in der Stadt und den Teilorten!

Welche Zusammenarbeit wollen wir?

Das Bodenseeleitbild setzt der Verstädterung, dem Verkehr, dem Tourismus und somit dem Wachstum in der Region Bodensee Grenzen. Alle Kommunen rund um den See sehen sich derzeit einem hohen, ungebremsten Siedlungs- und Wachstumsdruck ausgesetzt. Die regionale und überregionale Zusammenarbeit muss ganz neu gedacht und umgesetzt werden.

Für einen Paradigmenwechsel in der regionalen und überregionalen Zusammenarbeit! Für einen ökologisch nachhaltig verträglichen für die hier lebenden Menschen fortgeschriebenen Flächennutzungsplan

Die Grenzen des quantitativen Wachstums der Bodenseeregion sind sichtbar. Für einen Stopp der weiteren Bodenversiegelung und der Zersiedelung. Für eine Modellregion Bodensee mit einer nachhaltigen umwelt- und klimafreundlichen Entwicklung! Für eine bürgernahe vorausschauende Stadtplanungspolitik und einen rechtzeitigen ergebnisoffenen Dialog in der Vorbereitung von Bauvorhaben und den zugehörigen Entscheidungs-prozessen in der Stadtentwicklung zwischen Stadtplanungsamt und betroffenen / interessierten Bürgern.

 

Addendum

Was sind und wer bestimmt die „Haltelinien“ der baulichen Stadtentwicklung?

Als materielle „Haltelinien“ bestimmt § 1 BauGB als oberstes Gebot jeder Bauleitplanung die Gewährleistung einer nachhaltigen und geordneten städtebaulichen Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen unter Wahrnehmung aller Belange des Klima- und Umweltschutzes einschließlich des Naturschutzes und der Landschaftspflege miteinander in Einklang bringt. Dabei sind die städtebauliche Gestalt und das historisch gewachsene Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und fortzuentwickeln sowie die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Schließlich ist eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung zu gewährleisten und öffentliche und private Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen.

Als verfahrensrechtliche „Haltelinien“ nach § 3 BauGB hat die planende Gemeine dabei zunächst die Öffentlichkeit frühzeitig – d.h. nicht erst dann, wenn die Planung schon so verfestigt ist, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung zur Farce wird. - über die allgemeinen Ziele, Zwecke und Auswirkungen ihrer Planung zu unterrichten und Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung zu geben, Abs: 1. Danach sind die gegebenenfalls im Lichte von Anregungen und Einwendungen überarbeiteten Pläne mit Begründung und Umweltbericht i.d.R. 1 Monat öffentlich auszulegen, um auch den betroffenen Bürgern Gelegenheit zu geben, Anregungen vorzubringen oder auf Bedenken hinzuweisen, Abs. 2.

Jedes Bauleitplanungsverfahren durchläuft also zwei gesetzlich gesondert geregelte Phasen der Bürgerbeteiligung und zwar in Phase 1 die frühzeitige Unterrichtung und Anhörung der Öffentlichkeit (sog. frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung) und in Phase 2 die öffentliche Auslegung des fortentwickelten Entwurfs des Bauleitplans nebst Anlagen (sog. förmliche Öffentlichkeitsbeteiligung/Auslegungsverfahren).

In Phase 1 und 2 vorgebrachte Anregungen und/oder Bedenken/Einwendungen sind von der Gemeinde zu bescheiden. Dabei kann die Gemeinde neutrale Fachpersonen hinzuziehen, nicht aber Personen, die dem Vorhabenträger/Investor/Bauträger o.ä. zuzurechnen sind und daher in einer verbotenen Interessenkollision zu den Bürgern stehen.

Aus allem folgt, dass alle „Haltelinien“ der baulichen Stadtentwicklung vollständig vom BauGB durch einen Strauß von materiellen Zielvorgaben, die weit über die rein baulichen Belange hinausreichen, vorgegeben sind, die zwar von der Gemeinde im Einzelfall in eigener Verantwortung zu bewerten sind, verfahrensrechtlich aber nicht bevor die zweiphasige Öffentlichkeitsbeteiligung abgeschlossen ist.

Die Planungshoheit der Gemeinde in der Bauleitplanung ist also kein Recht zur Alleinentscheidung, sondern lediglich das ihr allein zustehende Initiativrecht zum Anstoß einer nach § 1 Abs. 3 BauGB notwendigen Bauleitplanung, eingebettet in ein gesetzlich vorgeschriebenes doppelzügiges Bürgerbeteiligungsverfahren, das erst nach der Mitwirkung von Öffentlichkeit, betroffenen Bürgern, Gemeinderat und notfalls Verwaltungsgerichten zu einem rechtskräftigen Bauleitplan führt.